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„Die Freiheit führt das Volk an“

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Am Sonntag titelte faz.net mit zwei Beiträgen zur Protestkultur von „Stuttgart 21“. Daneben war ein Bild zu sehen, das ein Schild mit dem Gemälde „Die Freiheit führt das Volk an“ des französischen Malers Eugène Delacroix zeigt. Dieses gestalteten die Gegner des unterirdischen Bahnhofs für ihre Zwecke um: Die Landesflagge wurde integriert und dem Bild der Untertitel „Wir sind das Volk. Stoppt S21“ gegeben.

Es gibt in Europa etwa 15 Bilder, die zur Visualisierung von geschichtlichen Ereignissen, etwa in Lehrbüchern, immer wieder auftauchen. Dazu zählen Anton von Werners „Proklamation des Deutschen Kaiserreichs“ (mehr dazu in meinem Bändchen Medienrituale), „Guernica“ von Picasso und eben „Die Freiheit führt das Volk an“. Diese Ikonen des kollektiven Gedächtnisses erfüllen neben der Erinnerung noch eine weitere Funktion: Da sie so bekannt sind, können sich Oppositionelle und Kulturschaffende ihrer erfolgsversprechend bedienen und sie mit neuen Bedeutungen füllen. Im Fall von „Stuttgart 21“ wurde genau das getan.

Eine ähnliche visuelle Strategie verfolgt übrigens die Junge Freiheit. Die konservative Wochenzeitung nutzt das berühmteste Gemälde von Delacroix ebenfalls für Werbezwecke – wiederum leicht abgewandelt mit einer Deutschlandfahne. Im Europawahlkampf 2009 schlüpfte außerdem die österreichische Grünen-Politikern Ulrike Lunacek in die Rolle der Marianne. Sie trug eine grüne Fahne mit EU-Sternchen.

Der Gebrauch dieses Bildes durch Akteure mit völlig unterschiedlichen Zielen wirft Fragen auf: Ist das Gemälde schon so inhaltsleer, daß es nur noch eine diffuse Stimmung von Freiheit und Protest vermittelt und deshalb jeder „irgendwie“ davon profitieren kann? Und, kennen wir eigentlich noch das Original und seine Entstehungsgeschichte oder ziehen wir Rückschlüsse, ausgehend von den Kopien auf das Original?

Auf jeden Fall ist die Strategie des Kopierens wirkungsvoll. Das zeigt das „Stuttgart 21“-Beispiel. Medien wie die FAZ schaffen den Eindruck, es handele sich hier um eine authentische Protestsituation, indem sie solche Inszenierungen zu Titelbildern machen und diese repräsentativ für das Gesamtereignis stehen lassen.

Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz hat in dem Aufsatz Der Kult des Authentischen im Zeitalter der Fälschung darauf hingewiesen, daß heute die Kopie erst das Original erzeuge. Das liege auch an der Existenz von ästhetischen Prämien für die „Überwindung des Einmaligen“. Eine solche Prämie ist es zum Bespiel, wenn eine große Tageszeitung die inszenierte Kopie auf den Titel setzt.

Zugleich hätten diese Mechanismen der Medien aber noch einen zweiten Effekt:

Genau so wie die Kopie das Original erzeugt, so erzeugt die Medienwirklichkeit erst die Erwartung einer authentischen Realität. Authentizität ist ein Kult der Naivität. (…) Das Authentische ist die blaue Blume der Romantik, die das normalisiert hat, was man heute im Jargon der Neokybernetik Beobachtung zweiter Ordnung nennt. Die Krise der Echtheit und der Kult des Authentischen sind also Komplementärphänomene.

Um zu guter Letzt nicht nur die Authentizität der „Stuttgart 21“-Proteste in Frage zu stellen, sondern auch die des Originalgemäldes „Die Freiheit führt das Volk an“, muß die persönliche Kunstauffassung von Delacroix kurz betrachtet werden, die Ernst Gombrich in seinem Essay Kunst und Fortschritt sehr schön beschrieben hat. Delacroix war überzeugter Aristokrat, der die damalige Gesellschaft am Rande des Abgrunds sah. In Zeiten des Verfalls hielt es der Franzose für nicht mehr möglich, das klassische Kunstideal zu erreichen. Deshalb eignete er sich einen leidenschaftlichen Stil an, „der ihm das Ansehen eines Revolutionärs gab, der er durchaus nicht sein wollte“, so Gombrich.

Titelbild: Albumcover von Viva la Vida or Death and All His Friends der britischen Band Coldplay (2008)

Bild 2: Screenshot, faz.net am 10. Oktober 2010

Bild 3: Wahlkampfplakat der österreichischen Grünen (2009)


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